27. April 2024

Völkermord als Erbe der Unabhängigkeit

Beim Thema Völkermord haben mehrere Nationen ihre blutroten Flecken im Geschichtsbuch. Allen voran ist der Mord durch Erschießung und Vergasung an über sechs Millionen Juden, Sinti und Roma sowie die zeitgleichen Morde durch Erschießungen, Verhungern lassen und Zwangsarbeit an Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs durch das Dritte Reich auf deutschem Boden bekannt und im immer wiederkehrenden Bewusstsein.

Es gibt aber auch zahlreiche andere Beispiel seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte, seit der Sesshaftigkeit.

Eins dieser Beispiele möchte ich anhand eines geschichtlichen Artikels in der Welt (Link am Ende des Beitrags) in Erinnerung bringen.

Großbritannien entließ 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, seine Kolonie Indien in die Unabhängigkeit. Dabei wurden die mehrheitlich hinduistischen Teile als Indien und die mehrheitlich muslimischen Teile als Pakistan unabhängige Staaten.

Dabei entstand mit Pakistan ein ganz besonderer Staat auf dem indischen Subkontinent: Er bestand aus zwei durch den neuen Staat Indien mit über 2000 km Luftlinie getrennte Landesteile. Im Westen in den Grenzen des heutigen Pakistan das sogenannte West-Pakistan. Muslimisch geprägt mit Urdu als Landessprache und rund fünfmal so groß wie Ost-Pakistan, besser bekannt als Bengalen. Dort lebten auf wesentlich weniger Raum rund 55 Prozent der Gesamtbevölkerung des Doppelstaates. Die Bevölkerung in Bengalen sprach fast ausschließlich Bengalisch.

Im Zuge der Unabhängigkeit kam es auch zu Vertreibungen sehr großer Bevölkerungsteile in beide Richtungen zwischen Indien und dem Doppelstaat Pakistan. Dabei kam es auch zu mehreren Massakern, die die bis heute andauernde Feindschaft zwischen beiden Staaten begründete.

Dominanz West-Pakistans

Das gemeinsame Militär war so stark von West-Pakistan dominiert, dass es kaum bengalische Offiziere in höheren Positionen gab. Auch politisch dominierten die urdusprechenden West-Pakistanier den Doppelstaat im selben Umfang. Zeitweise war daher Urdu die einzige offizielle Amtssprache. Diese Umstände sorgten für wachsenden Unmut in Bengalien.

In Bengalen bildete sich eine Separistenbewegung, die Awami-Liga, die säkulär auftrat. Im Gegensatz dazu waren die west-pakistanisch geprägte Regierungen stark muslimisch geprägt und schrieben 1956 in der Verfassung die „Islamische Republik“ fest. Seit 1958 regierte das Militär den Doppelstaat.

Durch diese vielen Gegensätze entwickelten sich enorme Spannungen, die immer wieder zu Gewaltausbrüchen in Bengalen führten.

Im November 1970 kam es durch einen Wirbelsturm zu schlimmen Verwüstungen und Sturmfluten in Bengalen. Die Zentralregierung – inzwischen von Karatschi in die neue Hauptstadt Islamabad verlegt -im westlichen Landesteil versagte dabei bei der Organisation und Verteilung von Hilfsgütern weitgehend.

Im Dezember 1970 wurde neu gewählt. Dabei erlangte die Awami-Liga einen Erdrutschsieg und gewann die Wahl. Die Regierung in Islamabad akzeptierte dieses Wahlergebnis nicht. Die Spannungen steigerten sich weiter und am 25. März 1971 wurde aus dem Konflikt ein offener Bürgerkrieg. Das west-pakistanisch dominierte Militär arretierte die Awami-Anführer und tötete viele Funktionäre der mittleren Ebene. Zeitgleich begannen sowohl die Armee wie auch islamische Todesschwadronen mit Massenverbrechen an der bengalischen Zivilbevölkerung.

Die nicht-muslimischen Bengalen wurden von Hasspredigern zu Ungläubigen erklärt, was die Milizen zusätzlich aufstachelte. Somit wurden die dort bislang recht unbehelligt lebenden religiösen Minderheiten (Christen, Buddhisten, Animisten und vor allem Hindus) verfolgt und vielfach getötet. Auch bengalische Muslime wurden massenhaft von Todesschwadronen verfolgt. Die Konsequenz: Millionen Menschen begannen nun ins benachbarte Indien zu flüchten.

Es war in der Welt nicht unbekannt

Schon zu Beginn dieses Bürgerkrieges, am 27. März 1971, berichtete die „New York Times“ von Massakern des pakistanischen Militärs an Zivilisten.

„Die pakistanische Armee geht mit schwerer Artillerie und Maschinengewehren gegen unbewaffnete ost-pakistanische Zivilisten vor, um die Autonomiebewegung in der Region niederzuschlagen.“

New York Times, 27.03.1971

Nur zwei Tage später berichtete der „Sydney Morning Herald“ über die enorme, kaum vorstellbare Opferzahl. Zwischen 10.000 und 100.000 Opfer unter der Zivilbevölkerung binnen nur drei oder vier Tagen.

Am 7. April 1971 verurteilte ein Leitartikel in der „New York Times“ das Schweigen der US-Regierung gegenüber dem „wahllosen Abschlachten von Zivilisten und der gezielten Ausschaltung von Führungsschichten des separatistischen ostbengalischen Staates.“ Die Zeitung betitelte dies als „Blutbad in Bengalen“.

Mitte April verurteilte die indische Regierung die Vorgänge in Bengalen als „grausames und mittelalterliches Gemetzel“ sowie als „geplantes Blutbad und systematischen Völkermord“.

Ein Kriegsberichterstatter, der wochenlang eine pakistanische Division begleitete berichtete Mitte Juni 1971 aus erster Hand. Er interviewte Offiziere und berichtete, diese seien fest entschlossen, „Ost-Pakistan ein für alle Mal von der Bedrohung durch die Abspaltung zu reinigen, selbst wenn dies bedeutet, dass zwei Millionen Menschen umgebracht werden und wir die Provinz für 30 Jahre wie eine Kolonie regieren müssen“.

Neben der massenhaften Tötung von Zivilisten wurden bengalische Frauen systematisch vergewaltigt – oftmals öffentlich. Viele wurden in Bordelle gezwungen und mussten dort den Militärs ‚dienen‘. Die Frauen, die dies überlebten galten bei ihren Verwandten aufgrund kultureller Traditionen als ‚beschmutzt‘ und wurden somit ausgegrenzt.

Eingriff von Außen

Im Juni drangen paramilitärische indische Truppen nach Bengalen vor und besiegten bis Mitte Dezember die pakistanischen Milizen. Dies führte zum Ausbruch des dritten Indisch-Pakistanischen Krieges an der Grenze zu West-Pakistan (3.-17. Dezember 1971).

Schließlich wurde so Bengalen als Bangladesch unabhängig. Es ist heute der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Erde.

Die juristische Aufarbeitung 1973 scheiterte, da die Regierung gestürzt wurde. Die folgenden fast vier Jahrzehnte regierten propakistanische Kräfte. Erst 2010 begann ein neuer Versuch der juristischen Aufarbeitung. Dabei wurden rund 1.600 noch lebende Tatverdächtigte identifiziert. Inzwischen wurden – in rechtsstaatlich fragwürdigen Prozessen – ein halbes Dutzend islamische Bengalen gehängt und weitere zu oft langen Haftstrafen verurteilt.

Unklare Opferzahlen

Die Schätzungen gehen weit auseinander. So liegen die niedrigsten der seriösen Schätzungen bei 300.000, die höchsten von 3.000.000 ermordeten bengalischen Zivilisten. Die Opfer wurden nur teilweise in Massengräbern verscharrt. Die meisten werden in Flüsse geworfen worden sein und so in den Indischen Ozean gespült worden sein.

Geringer ist die Spanne bei der Zahl der Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Von mindestens 100.000 bis vielleicht 200.000 oder gar 400.000 Frauen ist hier die Rede.

Erweiterte Schuldfrage

Die aktive Schuld liegt eindeutig bei den west-pakistanischen Milizen, Militärs sowie der Regierung.

Eine nicht unerhebliche indirekte Schuld trägt aber auch die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien. Sie hätte den Übergang anders gestalten können sowie schon zu Beginn bei den Vertreibungen eingreifen müssen. Der Doppelstaat Pakistan hätte gar nicht entstehen dürfen. Nur weil beide Landesteile muslimisch geprägt waren heißt das doch nicht, dass sie keine innere Spannungen aufbauen. Diese müssen auch schon in der Kolonialzeit bekannt gewesen sein. Großbritannien war blauäugig und nach dem ersten Ausbruch der Gewalttätigkeiten kurz nach dem Ende der Kolonialzeit wurden beide Augen verschlossen.

Dennoch durfte Großbritannien nicht die Augen vor dem Völkermord in Bengalen verschließen. Nicht, nachdem tausende Briten und auch Inder in Europa auch für die Befreiung der KZ’s kämpften und starben, um den o.g. Völkermord während des Zweiten Weltkriegs zu beenden.

Aber der Völkermord in Bengalen bedrohte ja nicht die britische Insel oder die britische Wirtschaft. Es passierte auch nicht vor der eigenen Haustür, sondern im verlassenen Hinterhof.

Bengalen war schon damals arm und besitzt keine Rohstoffe. Es besitzt nur viele arme Menschen, die inzwischen für wenig Geld hart für den europäischen Wohlstand arbeiten.

Den diesem Beitrag zugrundeliegende Artikel finden Sie hier:
Völkermord in Bangladesch 1971: „Tod den Ungläubigen“, schrien die Milizen – WELT

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